Gedanken zum Oi- und Gyaku-Zuki

Ein Gedankenspiel zum Oi- und Gyaku-Zuki

Ein Stand und zwei verschiedene Stoßtechniken: Oi-Zuki und Gyaku-Zuki.  Wo sind die Vorteile und wo die Nachteile? Beleuchtet wird u.a. der Kraftfluss der beiden Techniken.


Die Standgrundlage des Oi- bzw. des Gyaku-Zuki ist der bereits beschriebene Zenkutsu-Dachi - auf diesen wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen. Die sichtbaren Unterschiede liegen zunächst in der seitengleichen bzw. der seitenverkehrten Ausführung der beiden Fauststöße.


Die Seitengleichheit sei an dieser Stelle wie folgt definiert: Die beiden Extremitäten Arm und Bein der gleichen Körperseite (rechts oder links) haben die gleiche Ausrichtung:

- rechter Arm vorne, rechtes Bein vorne bzw.

- linker Arm vorne, linkes Bein vorne


Für die seitenverkehrte Ausführung gilt:

- rechter Arm vorne, rechtes Bein hinten bzw.

- linker Arm vorne, linkes Bein hinten


Weiter sei erwähnt, dass das Ziel sich bei beiden Stoßtechniken vor dem eigenen Solar-Plexus befindet. Der Ansatz für die rückwärts orientierten Techniken gilt hier entsprechend analog.


Obwohl die allgemeine Ausführung des Oi- bzw. Gyaku-Zuki als bekannt vorausgesetzt wird, sei dennoch kurz auf die wichtigsten Merkmale an dieser Stelle hingewiesen:


1. Unterstützung der Stoßbewegung des Armes durch die Vorwärtsbewegung des Körpers

2. Axiale Drehung des ausführenden (stoßenden) sowie die des zurückziehenden Armes

3. Hüft- und Beineinsatz

4. Bewegungsverkettung


Auf den Tsuki als solches wird an einer anderen Stelle eingegangen werden, siehe hierzu „Ein Gedankenspiel  zum Choku-Zuki.


Entscheidend sowie beabsichtigt bei einem Stoß ist die maximale Krafteinwirkung auf ein Ziel. Darin liegt die Priorität einer jeden einzelnen Schlag-, Tritt- oder Stoßtechnik. Diese wird nur durch optimale Bedingungen erreicht, wobei der gesamte Körper bestrebt ist, diese zu erlangen. Doch wann ist dies der Fall? Eines steht fest: Das Optimum kann erreicht werden, wenn alle störenden Faktoren beseitigt werden. Darunter zählen u.a. die Unterbrechung des Kraftflusses sowie Störung des Gleichgewichtes, Dekonzentration, fehlende Geschwindigkeit aufgrund einer falschen Technik, ...


Um dem Optimum möglichst nahe zu kommen, ist folgendes zu beachten:


Zu 1:

Physikalisch betrachtet ist die Kraft ein Vektor. Sie hat eine Richtung sowie einen Betrag, die „Stärke“. Weiter gilt:

a) Liegen mehrere Kräfte parallel zu einander und zeigen sie in die gleiche Richtung, so addieren sich deren einzelne Kraftkomponenten.

b) Stehen die einzelnen Kraftkomponenten senkrecht zueinander, so haben sie keinen Einfluss aufeinander.

c) Entgegen gesetzte Kräfte heben sich auf. (Die Bildung eines Drehmomentes aufgrund eines Kräftepaares wird bei Bedarf an einer anderen Stelle verdeutlicht.)


Dies betrachtend, sowie die Hauptmerkmale des Oi- sowie die des Gyaku-Zuki hinzuziehend, stellt man fest, dass der Fauststoß bei einem Oi-Zuki die Wirkungslinie, hier als vereinfacht dargestellte Gerade, resultierende Bewegungsrichtung des Körpers, unter einem größeren Winkel schneidet, als der Gyaku-Zuki. Somit addieren sich die einzelnen Kraftkomponenten laut a) und b) bei einem Gyaku-Zuki zu einer größeren Resultierenden als bei einem Oi-Zuki. (Skizze folgt)


Zu 2:

Die axiale Drehung des stoßenden Armes begünstigt die Endgeschwindigkeit der treffenden Fauststelle (Seiken). Somit wirkt zum Zeitpunkt des Treffens ein wesentlich größerer Impuls (Impuls = Masse x Geschwindigkeit) auf das Ziel ein. Dies wird mit dem Einbringen weiterer Muskelgruppen in die Gesamtbewegung begründet.

Weiter gilt auch, wie bei jeder Ausführung einer beliebigen Technik, dass die zurückziehende Faust der Stoßenden zusätzlich einen Impuls verleiht. Dieser wird zur Beschleunigung genutzt, da durch das bewusste Zurückziehen der Stoßhand zur Hüfte die Schulter leicht eingedreht und somit der beabsichtigte  Fauststoß schneller aus der Ruhelage gebracht wird.


Zu 3:

Betrachten wir nun den seitengleichen Stoß nach vorne, den Oi-Zuki, und vereinbaren, dass dieser bereits mit dem rechten Arm ausgeführt worden ist. So wirkt die Faust mit einer entsprechenden Kraft auf das Ziel ein. Physikalisch betrachtet wirkt das Ziel ebenfalls mit der gleichen Kraft auf die Faust ein: actio = reactio.  Um diese spürbare Kraft bei einem Oi-Zuki weiter zu leiten, muss diese durch den Körper und das hintere Bein weitergeleitet werden, welches sich auf der anderen Seite, der linken, befindet. Die Hüfte muss hierbei ein gewisses Drehmoment aufbringen, was als „Störung“ der Kraftlinie angesehen werden kann. Weiter ist zu erkennen, dass die Wirkungslinie des Stoßes und die Wirkungslinie des Standes  (vgl. 1 b und Skizze) ebenfalls in einem Winkel zueinander stehen.  Somit wirkt sich die Normalkraft (Normalkraft = die auf eine Fläche senkrecht wirkende Kraftkomponente) negativ auf die Standstabilität aus. Der Ausführende eines Stoßes hat das Gefühl „nach hinten zu kippen“.

Der Gyaku-Zuki trägt aufgrund seiner Gegebenheit zur fast vollständigen Beseitigung dieser „Störung“, also des Kippgefühls, bei. Bei dem seitenverkehrten Stoß nach vorne (hier beispielsweise angenommen: linkes Bein vorne, rechter Arm vorne) ist die Kraftwirkungslinie kürzer. Sie wird nicht auf die andere Seite umgelenkt, sondern verbleibt auf der gleichen Seite und wird mit einem wesentlich geringeren axialen Drehmoment (um die Körperachse) in das hintere, rechte Bein weiter gegeben.


Zu 4:

Die Schrittfolge ist die gleiche, wie bei einem Zenkutsu-Dachi. Zu Beachten ist hierbei, dass der Stoß selbst nicht vorzeitig angefangen bzw. beendet werden darf. Das Optimum an Kraftübertragung wird erreicht, wenn alle Faktoren in der Summe Bestwerte annehmen: maximale Geschwindigkeit dank zeitoptimierter Ent- sowie Anspannung der Muskulatur. Dies kann nur erzielt werden, wenn die langsamen/großen Muskel/Muskelgruppen (bspw. die Bauchmuskulatur) die Bewegung einleiten und die schnellen Muskeln auf dieser Grundlage ihre Wirkung entfalten und einbringen. Ein Beispiel hierfür ist die Peitsche: der Griff beschleunigt bei seiner Bewegung das dünnere Ende.

Ein wichtiger weiterer Aspekt der Geschwindigkeitssteigerung ist die Funktion der Muskeln selbst: sie können nur kontrahieren. Ein Muskel allein kann sich demzufolge nicht selbst strecken. Auf diese Weise können bereits angespannte Muskeln in einem Bewegungsapparat mehrfach hinderlich sein. Sie benötigen zum einen mehr Kraft anderer Muskel  um gestreckt zu werden und zum anderen müssen sie den angespannten Zustand auflösen, bevor sie ihn erneut annehmen können. So liegt die Kunst einer perfekten Technik darin, diese nicht nur örtlich zu betrachten, sondern ganzeinheitlich zu verstehen und zu verinnerlichen, was nicht selten jahrelanges sowie korrektes Üben voraussetzt.



Allein schon mit den Erkenntnissen unter Punkt 1 lässt sich feststellen, dass der Gyaku-Zuki in der Kraftentfaltung dem Oi-Zuki übergeordnet ist. Ein praktischer Beweis für die höhere Kraftentwicklung beim Gyaku-Zuki – im Vergleich zu einem Oi-Zuki – sind die zahlreichen Tameshiwari, also die Bruchtests, bei denen der Oi-Zuki nicht bzw. kaum Anwendung findet. Die weiteren Punkte können ebenfalls auf viele andere Techniken übertragen werden.


Bilder sowie weitere Textergänzungen folgen.